Die Verkünderinnen und Verkünder stehen in der heutigen Zeit vor großen Herausforderungen. Durch alle Jahrhunderte hindurch mussten immer wieder neue Formen gefunden werden, die alte Botschaft in die jeweilige Zeit und Kultur hinein zur Sprache zu bringen. Es ist die Botschaft von Gott, der eine Geschichte mit den Menschen hat. Dieser Gott ist nicht in theologischen Traktaten oder komplizierten dogmatischen Gedankengebäuden zu fassen. Der geschichtliche Gott ist am besten in Geschichten zu greifen.
Es ist kein Zufall, dass Gleichnisse in der Verkündigung Jesu eine zentrale Rolle spielen. Gleichnisse sind Bildworte, in denen der, den Worte eigentlich nicht beschreiben können, zur Sprache gebracht werden kann. Deshalb sind Gleichnisse nicht definitorisch. Sie eröffnen eine Bildwelt, in denen zum Ausdruck kommt, wie Gott ist.
Dabei benötigen Gleichnisse die Mitarbeit der Hörer und Leser. Es ist eine Eigentümlichkeit, dass viele Gleichnisse Jesu in typisch jüdischer Art und Weise erzählerische Lücken aufweisen, die auf den ersten Blick gar nicht auffallen. Dieses sogenannte Stilmittel der Lakonie zwingt den Leser bzw. Hörer zur Mitarbeit. Er füllt diese Lücke automatisch und wird so in das Gleichnis hineingezogen; er wird Teil der Geschichte Gottes.
Die Leseordnung sieht für den 24. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C gleich drei Gleichnisse in der Verkündigung des Evangeliums vor – zumindest in der Langfassung. Am Beginn stehen zwei Gleichnisse über das Verlieren und Wiederfinden. Zuerst wird das sogenannte „Gleichnis vom verlorenen Schaf“ erzählt:
Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wieder gefunden, das verloren war. (Lukas 15,4-6)
Dieses Gleichnis ist beispielgebend für die Verkündigung Jesu. Im Unterschied zu vielen Predigten, deren Festlichkeit und Qualität oft an der Länge gemessen wird, benötigt Jesus gerade einmal vier Sätze um das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Ausgangspunkt für das Gleichnis ist die Empörung der Jesusskeptiker, die sich an seiner Praxis stoßen, mit Sündern zu verkehren – also mit Menschen, die sich ihrer Ansicht nach durch Brechen der jüdischen Gesetze von Gott abgesondert haben. Jesus konterkariert diese Haltung, in dem er am Beispiel des verlorenen Schafes zeigt, dass Gott seine Freude an jedem hat, den er wiederfindet.
Das ist der entscheidende Punkt. Das Schaf ist als Schaf nicht in der Lage, willentlich die Nähe des Hirten zu verlassen. Es ist das Versagen des Hirten, dass das Schaf verloren geht. Von einer Schuld des Schafes kann nicht die Rede sein. Das ist der entscheidende Aspekt, den der Leser durch seine Mitarbeit leisten muss. Die Übertragung der Bildwelt auf Gott löst dann eine ungewohnte Erkenntnis aus: Gott erschrickt über das Verlorengehen eines Menschen, das er nicht verhindert konnte. Er geht dem Menschen aber nach und freut sich, ihn wieder zu finden, ohne das der Mensch dazu eine vorgängige Leistung zu erbringen hätte.
Die Verkündigung Jesu ist damit nicht von Sündenempfindlichkeit geprägt, sondern von dem Mitleid empfindenden Gott. Diese Sympathie Gottes gerade mit denen, die sich nicht in seiner Nähe wähnen, wird in der Praxis Jesu, mit den gesellschaftlich Geächteten zu verkehren, leiblich greifbar. Jesus redet nicht bloß, er tut, was er verkündet.
Dieser Aspekt spielt auch im zweiten Gleichnis, dem Gleichnis von der wiedergefundenen Drachme eine wichtige Rolle. Auch hier ist die Freude über das Wiederfinden groß. Die Frage, warum die Drachme verloren ging, spielt keine Rolle.
Den dramaturgischen Höhepunkt der Gleichnisserie spielt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das manche auch als Gleichnis vom barmherzigen Vater bezeichnen. Beide Aspekte spielen in der Gleichniserzählung eine Rolle; es kommt auf die Perspektive an, aus der man das Gleichnis betrachtet. Tatsächlich handelt es sich um ein Doppelgleichnis: Der Erzählung von dem jüngeren Sohn, der das Erbteil des Vaters verprasst und – nachdem er seinen Hunger mit Schweinfutter stillen musste – reumütig zurückkehrt, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Der Vater aber setzt ihn, obwohl er es doch offenkundig nicht verdient hat, in seine alten Rechte wieder ein; mehr noch: er richtet ihm zu Ehren ein großes Fest aus. Soweit liegt das Gleichnis auf der Linie, die durch die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der wiedergefundenen Drachme gezogen wurde.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn geht aber weiter. Der ältere Sohn wird über das Verhalten des Vaters zornig und führt Beschwerde:
So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. (Lukas 15,29-30)
Der Vater aber redet ihm gut zu und möchte ihn für sich gewinnen:
Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden. (Lukas 15,31-32)
An dieser Stelle endet das Gleichnis. Die Mitarbeit des Lesers bzw. Hörers ist wieder gefragt. Wie wird sich der ältere Sohn entscheiden? Wird er zum Fest für den gehen, der unverdientermaßen wieder in die Familie aufgenommen wurde? Wird er sich mitfreuen können? Oder wird er verstockt davon gehen – und selbst zum verlorenen Sohn werden?
Der verlorene Sohn ist nicht der jüngere Bruder – er kommt ja zurück. Er schien nur verloren zu sein. Verloren geht, wer nur auf die Sünden und Fehler – meist der anderen – fixiert ist. Der Himmel scheint nicht so fromm zu sein, wie es manche gerne hätten, wenn dort vor allem die Sünder willkommen sind.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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